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Vom Weberknecht zum Unternehmer

Mathias Naef: Leben und Aufstieg eines armen Mannes im Toggenburg

Dr. Albert Tanner, Bern

Am 14. Mai 1792 wurde Mathias Naef als Sohn eines Webers im unteren Toggenburg geboren. Im Alter von zehn Jahren sass er wie sein Vater am Webstuhl. Dreizehnjährig kam er zu einem Bauern, wo er sich seinen Lebensunterhalt als Weber und Feldarbeiter verdiente. Wäre Naef’s Leben in üblichen Bahnen weitergegangen, er wäre wohl sein Leben lang Weber geblieben. Doch es kam anders. 1846 starb er als angesehener «Fabrikherr» und führender Unternehmer der Ostschweizer Textilindustrie. In seinen Diensten standen über 2000 Menschen.

Portrait von Mathias Naef

Mathias Naef’s Aufstieg vom Weberknecht zum Verleger, Fabrikherrn und Kaufmann war auch zu seiner Zeit alles andere als typisch. Die erfolgreichsten Toggenburger Fabrikanten und Unternehmer wie Raschle, Anderegg und Mettler waren bereits in der zweiten oder dritten Generation unternehmerisch tätig. Fast alle hatten eine vergleichsweise gute Schulbildung, hatten zu Hause oder in auswärtigen Handelsgeschäften eine kaufmännische Ausbildung erhalten und z.T. noch im Ausland erste Erfahrungen in kaufmännischer oder auch technischer Hinsicht sammeln können. Eine so steile Unternehmerkarriere wie Naef war Angehörigen der Unterschicht in der Regel verschlossen. Wie der kleine Fabrikant Ulrich Bräker, der durch seine literarische Tätigkeit als «armer Mann im Tockenburg» in die Geschichte eingegangen ist, gelangten die meisten auf keinen grünen Zweig. Ihnen fehlte es an Geld, kaufmännischen und technischen Kenntnissen, organisatorischen Fähigkeiten und, was fast noch wichtiger war, an jenen gesellschaftlichen Beziehungen und Kontakten, die für die Geldbeschaffung und den Absatz der Produktion unerlässlich waren. Die wirtschaftliche und soziale Benachteiligung war mit Fleiss, Hartnäckigkeit, Sparsamkeit und selbst mit einer guten Portion Glück nur sehr schwer auszugleichen. Mathias Naef schaffte es. Wie und unter welchen Umständen zeigt uns seine Lebensgeschichte.

Jugend: Spulen und Weben

Mathias Naef’s Leben und Aufstieg ist eng verbunden mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Toggenburgs. Bei seiner Geburt, im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts war die Industrialisierung im Toggenburg schon weit fortgeschritten. Ein grosser Teil der Bevölkerung lebte ganz oder doch teilweise von der Baumwollindustrie, vom Spinnen, Spulen und Weben. Auch Naef’s Vater, 1764 in Oberstetten in der Gemeinde Henau geboren, hatte sich in den achtziger Jahren dem neuen Erwerbszweig zugewandt. Er betätigte sich als Baumwollweber. Sein einziger Besitz war seine Arbeitskraft. 1791 heiratete er die 22jährige Bauerntochter Susanna Riemensperger und zog zu ihr und ihren Eltern nach Schwarzenbach. Hier kam am 14. Mai 1792 Mathias zur Welt. In den nächsten acht Jahren folgten noch fünf weitere Knaben. Zwei starben jedoch kurz nach ihrer Geburt wieder. 1800 erlag Susanna Riemensperger den Spätfolgen ihrer sechsten Geburt. Ihr Tod hinterliess im Naef’schen Haushalt eine empfindliche Lücke. Es fehlt nicht nur die Hausfrau und Mutter, sondern auch die wichtigste Hilfskraft eines jeden Webers, die Spulerin. Von nun an wurden deshalb die drei älteren Knaben im Alter von neun, sechs und fünf Jahren voll in die Arbeit eingespannt. Sie mussten dem Vater das Garn spulen. Um das Familieneinkommen noch etwas zu erhöhen, waren sie noch zusätzlich mit Spinnen beschäftigt. Mathias, als Ältester, trug wohl die Hauptlast all dieser Arbeiten. Für den Schulbesuch fehlten Zeit und Geld. Alles in allem war er nicht mehr als 40 Wochen in der Schule. Dürftig lesen und wenig schreiben war deshalb alles, was er konnte.

Mit zehn Jahren lernte er weben. Er musste den Vater ersetzen, wenn dieser den Haushalt besorgte oder sich ins Wirtshaus verzog. Bald sass er am eigenen Webstuhl und verdiente seinem Vater vier Gulden die Woche. Dennoch besserte sich die Situation in der Familie nicht, im Gegenteil sie verschlechterte sich noch mehr, denn der Vater war häufiger im Wirtshaus als am Webstuhl anzutreffen. Das Einkommen reichte nicht einmal mehr für das Allternotwendigste. 1805 musste er den Haushalt auflösen und sich selbst als Knecht verdingen. Zusammen mit seinem Bruder kam Mathias zu einem verwandten Bauern nach Oberuzwil, wo er gegen Kost und Logis auf dem Feld und am Webstuhl arbeitete. Für ein gewobenes Stück erhielt er jeweils noch ein kleines Trinkgeld. Sechs Jahre blieb der junge Naef bei seinen Verwandten. Nachts oder am Webstuhl lernte er mit Hilfe eines Rechenbüchleins und unter Anleitung eines Mitknechtes rechnen. Strebsamkeit und das Bedürfnis nach Respektabilität und Unabhängigkeit bestimmten auch sonst schon früh seine Lebensgestaltung. Um sein Konfirmationskleid selbst bezahlen zu können, bat er den Meister, für einen Fabrikanten direkt um Lohn weben zu dürfen. Dafür wollte er ihm für die Dauer des Konfirmationsunterrichtes ein Kostgeld zu entrichten. Sein Ehrgeiz und Fleiss lohnten sich. Aus dem Verdienten konnte er nicht nur das Kleid, silberne Schuhschnallen und ein Gesangsbuch kaufen, sondern auch noch 18 Gulden bar auf die Seite legen. Trotz dieser Erfahrungen arbeitete er nach der Konfirmation nochmals ein Jahr lang zu den alten Bedingungen gegen Kost und Logis und einen festen Jahreslohn von 50 Gulden. Warum, ob freiwillig oder unter Zwang, wissen wir nicht. 1811 verliess er seine Verwandten und trat beim Fabrikanten Hans-Jakob Spitzli in Oberuzwil als Weberknecht in den Dienst. Hier erhielt er für ein ausgewobenes Baumwollstück nebst Kost und freier Wäsche fünf, später acht Gulden Lohn – ausser Haus hätte der Fabrikant dafür zwölf Gulden bezahlten müssen. Naef erwies sich als äusserst geschickter und fleissiger Weben. Für Stücke, an denen ein Weber gewöhnlich zwei Wochen arbeitete, brauchte er eine Woche. Keiner geizte aber auch so mit der Zeit wie er. So bat er seine Meistersfrau, sie möchte ihm zum Essen jeweils erst klopfen, wenn die gesottenen Erdäpfel mit abgezogener Haut auf dem Tisch lägen. Er arbeitete oft bis in die Nacht hinein, rauchte nicht, ging kaum ins Wirtshaus und trieb auch sonst keinen grossen Aufwand. Durch diese an bürgerlichen Massstäben orientierte Lebensführung unterschied er sich von der Mehrzahl der Heimarbeiter. Das Verdiente gaben sie in der Regel für die täglichen Bedürfnisse, in guten Zeiten etwa auch für kleinere Vergnügungen und Abwechslungen im eintönigen Speisezettel, gerade wieder aus. Unter dem Druck der Verhältnisse, bei dem kargen Einkommen bleib ihnen in der Regel auch gar nichts anderes übrig.

Vom Lohnweber zum Fabrikanten

Rastlose Tätigkeit und Sparsamkeit liessen Naef’s Ersparnisse anwachsen. Zusammen mit seinen beiden Brüdern Johannes und Jakob konnte er 1814 in Oberuzwil ein Häuschen kaufen. Er arbeitete zwar weiter um Lohn, jetzt aber in den eigenen vier Wänden und ohne Aufsicht des Fabrikanten. 1816 heiratete er die als Magd in einem Fabrikantenhaus dienende Anna Maria Wetter, welche nach achtjähriger Dienstzeit nicht nur die Hausgeschäfte beherrschte, sondern sich auch im Zetteln und Garnsieden auskannte, Kenntnisse, die auch Naef später sehr zustatten kommen sollten. 1817 kam das erste Kind, Hans Jakob, 1819 Anna Maria und 1822 Maria Verena zur Welt. Sechs weitere Kinder starben bei oder kurz nach ihrer Geburt wieder. Der einzige Knabe wurde mit zwei Jahren ein Opfer der väterlichen Arbeitsamkeit. Vom Vater zu oft in den Webkeller mitgenommen und dort auf den feuchten Boden gesetzt, verlor er nach einer Erkältung sein Gehör. Nicht er, sondern seine beiden Schwestern und ihre Männer sollten deshalb einmal die Nachfolge des erfolgreichen Vaters antreten können.

Wie in allen Heimarbeiterhaushalten war auch Naef’s Frau in den industriellen Arbeitsprozess eingespannt. Neben der Hausarbeit und der Kinderpflege spulte sie für ihren Mann das Garn. Bei dessen hoher Arbeitsleistung geriet sie jedoch öfters in Rückstand, so dass Naef warten musste, bis neues Garn da war. Um durch dieses Versäumnis an seinem Weberverdienst nichts einzubüssen, bewilligte er seiner Frau eine Magd.

1820 starb Fabrikant H.J. Spitzli, sein bisheriger Arbeitgeber und Taufpate der beiden ersten Kinder. Die Witwe vermittelte Naef für einen Herisauer Kaufmann einen Probeauftrag für sehr breite Stücke, allerdings nicht gegen Lohn wie bis anhin, sondern auf eigene Rechnung. Naef stand am Beginn seiner Selbständigkeit und Unternehmerkarriere. Er kaufte Garn, verbreiterte den Webstuhl, liess Lade, Bäume, Geschirr und alles Zubehör entsprechend anfertigen und wob schnell zwei Musterstücke. Die Ware gefiel und er erhielt gleich eine ordentliche Bestellung. Er entschloss sich, seinem Bruder Jakob, der bei ihm im Haus wohnte, sowie einem anderen, ihm wohlbekannten guten Weber, noch einen gleichen Webstuhl einzurichten und ihnen für ein Stück elf Gulden Weberlohn zu geben. Mit seinen beiden Webern zusammen wob er nun wöchentlich drei Stücke. Diese trug er jeden Freitag ins drei Stunden entfernte Herisau. Von jedem dieser Stücke blieben ihm über die Erstellungskosten hinaus elf Gulden Gewinn, so dass sich sein wöchentlicher Verdienst auf vierundvierzig Gulden belief. Naef war damit vom Lohnweber zum kleinen Fabrikanten avanciert. Seine Geschicklichkeit und sein guter Ruf als Weber, sein Fleiss und die Empfehlung der Witwe seines ehemaligen Arbeitgebers hatten es möglich gemacht.

Übermässige Arbeitsleistung und Gewinnstreben forderten von Naef’s Gesundheit jedoch ihren Preis. Vom Ziehen des Schusses durch die extrem breiten Gewebe ermüdete sein rechter Arm dermassen, dass er ihn mehrere Monate nicht mehr brauchen konnte und mit dem linken die Zugvorrichtung des Schnellschützen bedienen musste. Auch dieser machte ihm aber bald Schwierigkeiten. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als entweder in seiner eigenen Arbeit auf schmalere und weniger gut bezahlte Stücke umzusteigen oder aus der Not eine Tugend zu machen und die Arbeit anderen zu übergeben, sich also vor allem als Verleger zu betätigen. Die Aufforderung, mehr solch breite Stücke zu liefern, und der Gedanke, wieviel daran zu verdienen war, drängten ihn zur Ausweitung der Verlegertätigkeit. Doch dafür brauchte er Kapital, mehr als er selbst aufbringen konnte.

Probleme mit dem Kapital

Sein verfügbares Geld reichte höchstens für die Auslagen für Webgeschirr und Weblöhne. Das Problem war das Kapital für das Garn, denn er konnte nicht hoffen, dass sein Garnhändler, selbst ein kleiner Zwischenhändler, ihm das Garn für sechs bis acht Webstühle vorstrecken würde. Er musste deshalb versuchen, wie die vermögenden Fabrikanten seinen Bedarf direkt in St. Gallen zu decken. Nach Hinterlegung eines Versicherungsbriefes auf sein Haus, gelang ihm dies. Nun konnte er etliche Weber mehr anstellen. Kapitalknappheit machte ihm jedoch weiter zu schaffen. Er verkaufte deshalb seinem Bruder das Haus, um so zu flüssigem Geld zu kommen, und mietete sich bei den Schwiegereltern ein. Doch dies ging nicht lange gut. Für das Aufhängen und Lagern des Garnes war zu wenig Platz vorhanden; es kam zu Reibereien. 1821 kaufte er wieder ein Haus. Die Lebensumstände blieben aber beengend: Im Winter wurde in der Wohnstube gezettelt, Garn getrocknet, bisweilen auch noch gestabt. Die Wiege stand unter dem Umleggatter und die zwei ältesten Kinder hatten keinen anderen Platz als die Bank um den Tisch.

Obwohl sich Naef’s Ruf als Fabrikant rasch gefestigt hatte und er wie andere Verleger das Garn gegen eine kleine Vorauszahlung auf Kredit erhielt, musste er sich das zur Ausweitung seines Verlagsgeschäftes notwendige Kapital weiterhin am Munde absparen, am eigenen und an dem der Familie. Auf Fremdkapital konnte er nicht hoffen, für einen Aufsteiger aus der Unterschicht gab es vorerst kein anderes Mittel als über Selbstfinanzierung voranzukommen.

Seine Geschäfte in Herisau und St. Gallen besorgte er zu Fuss, oft trug er auch die Baumwollstücke auf dem Rücken zu seinen Auftragsgebern. Pferd und Wagen schaffte er erst an, als er soviel produzierte, dass wöchentlich eine Wagenladung voll anfiel. Mit dem Kauf des Wirtshauses „Zum Schäfle“ lösten sich 1824 seine räumlichen Probleme. Kapitalknappheit machte ihm aber in den folgenden Jahren immer wieder zu schaffen, vor allem wenn es darum ging, die Geschäfte auszuweiten und in neue Tätigkeitsfelder vorzustossen.

Vorerst dehnte Naef sein Verlagsgeschäft weiter aus, doch bald versuchte er sich auch als neuerungsfreudiger Geschäftsmann und Unternehmer, der die Zeichen der Zeit und Konjunktur zu nutzen wusste. Frühzeitig erkannte er die Notwendigkeit, sich noch mehr zu spezialisieren und nach neuen Produkten Ausschau zu halten, um so gegenüber der ausländischen, vor allem der englischen Konkurrenz auf den internationalen Märkten bestehen zu können. Mitte der zwanziger Jahre nahm er die Buntweberei auf, etwas später verlegte er sich auch auf die Jacquard-Weberei. Das gefärbte Garn bezog er anfangs von kleinen Färbereien in Hauptwil und Oberuzwil. 1826 errichtete er im Erdgeschoss seines Hauses eine eigene, kleine Färberei. Ein Brand, hervorgerufen durch einen Riss im Kamin der Färberei, und die fortwährende Ausdehnung des Geschäftes mit bunten Artikeln veranlassten ihn schon 1828 ein vom Wohnhaus getrenntes, neues  Färbereigebäude zu bauen. Naef hatte damit den Schritt vom Verleger zum Fabrikherrn getan.

Obwohl seine Geschäfte jetzt immer umfangreicher und vielfältiger wurden, schrieb er nichts auf, stützte er sich bloss auf sein Gedächtnis und sein Kopfrechnen. Ein Kassabuch führte er nicht. Auf die Länge konnte dies nicht gut gehen. Trotz guten Geschäftsganges litt seine Frau, die an die Weber und Spuler die Löhne auszahlte, ständig unter Geldknappheit. Irgendetwas in Naef’s Berechnungen stimmte offensichtlich nicht. Was genau, blieb ein Familiengeheimnis. Mit dem Eintritt eines Buchhalters, der ein Inventar aufnahm und die kaufmännischen Buchhalterprinzipien einführte, löste sich dieses Problem und Naef vermochte von nun an die Übersicht zu wahren.

Die Fabrikanlagen in Niederuzwil

Fabrikherr – Verleger – Kaufmann

Die weitere Ausdehnung des Naef’schen Unternehmens ist an den in den nächsten Jahren errichteten Bauten abzulesen; sie erst machten Niederuzwil zu einem Industrieort. 1833 liess Naef eine neue Zettlerei bauen, 1835 eine Weberei mit 23 Jacquard-Handwebstühlen für gemusterte und hauptsächlich bunte Artikel. Noch im gleichen Jahr machte er sich mit dem Bau einer mechanischen Spinnerei an sein bisher grösstes und gewagtestes Unternehmen. Über 100‘000 Gulden musste er dafür aufbringen. Soweit reichten seine eigenen Mittel allerdings nicht. Doch im Unterschied zum Lohnweber Naef war es für den Fabrikherren Naef nun ein leichtes zu fremdem Geld zu kommen. Wirtschaftlicher Erfolg, sozialer Aufstieg und solide Gestaltung seines Privatlebens hatten ihn kreditwürdig gemacht. Schon 1837 wurde die Spinnerei in Betrieb gesetzt. An 18 Maschinen mit 7344 Spindeln waren nach dem vollen Ausbau 130 Arbeiter, Männer, Frauen und Kinder, tätig. Die Arbeitszeit lag bei 13 Stunden, das Maximum der Löhne bei 1 Gulden im Tag.

Um seine Waren nach dem Weben auch selbst veredeln und ausrüsten (appretieren) zu können, liess er 1839 eine Appretur errichten, in der er 1841 noch einen Lufttrockenturm und eine Sengerei anschloss. Rund 20 Leute waren hier beschäftigt. 1842 liess er in Algetshausen eine zweite Jacquard-Weberei mit nochmals 23 Stühlen aufstellen. 1843 schaffte er sich Dampfkessel und Dampfmaschine an, um so, vom Wasserstand des Baches unabhängig, auch bei Wassermangel arbeiten zu können. Das letzte von Naef selbst veranlasste Bauwerk war 1845 eine neue Färberei.

Mit all diesen Bauten hatte Naef praktisch den ganzen Herstellungsprozess seiner Gewebe zentralisiert und in seiner Hand konzentriert. Mit Ausnahme der Bleicherei erfolgte die Verarbeitung der Baumwolle vom Rohmaterial bis zum Fertigfabrikat im Rahmen des eigenen Geschäftes. Auch den Absatz nahm er in den dreissiger Jahren selbst in die Hand. Über Vermittler, Kommissionäre, in Konstantinopel, Izmir, Beirut, Alexandria, in West- und Ostindien verkaufte er seine Buntgewebe im nahen und fernen Osten. Naef war nun Verleger, Fabrikherr und Kaufmann in einem.

Das ganze Unternehmen beschäftigte über 2000 Menschen. Verstreut im ganzen unteren Toggenburg und in der Gegend um Mörschwil arbeiteten 900 bis 1000 Weber, dazu kamen noch etliche hundert Spuler, meist ältere Leute oder Kinder. Etwas mehr als 200 Arbeiter waren in den Fabriken in Niederuzwil und Algetshausen angestellt. Für die Leitung und Organisation der verschiedenen Zweige des Unternehmens stützte er sich vorwiegend auf Familienangehörige und Verwandte. Den Umgang mit den Ferggern (Zwischenvermittler) und den Heimarbeitern, die Abgabe der Zettel, die Kontrolle der Tuche und die Auszahlung der Löhne besorgte seine Frau, später die jüngere Tochter, die sich noch zusätzlich mit der Ausarbeitung neuer Webmuster befasste. Den Geschäftsverkehr erledigten die ältere Tochter und ihr Mann. Die Spinnerei leitete ein jüngerer Verwandter, den Naef im Spinnfach extra hatte ausbilden lassen.

Im Umgang mit seinen Arbeitern, vor allem den direkt untergebenen Fabrikarbeitern, war Naef, wie die meisten Unternehmer dieser Zeit, autoritär und patriarchalisch; er war ihr Herr, dem sie mehr oder weniger ausgeliefert waren. Gesetzliche Regelungen zum Schutze der Arbeiter gab es damals noch nicht. Leicht aufbrausend, konnte Naef sehr heftig und derb dreinfahren. Bei einem drohenden Streik schreckte er gegenüber einem „Rädelsführer“ auch vor handgreiflicher Gewalt nicht zurück. Um die Fabrikarbeiter an neue Vorsorgemassnahmen zu gewöhnen und sie an das Unternehmen zu binden, richtete er schon früh eine Art Krankenkasse ein und gründete auch eine Ersparniskasse. Ein Teil der Arbeiter und Angestellten war noch in den Haushalt integriert und sass auch dort am Tisch. Er und seine Familie lebten anspruchslos und bis an sein Lebensende inmitten der Betriebsanlagen. Die Nachfolgegeneration setzte sich dann auch räumlich vom Betrieb ab und liess sich in der Nähe eine Villa erbauen.

Wie lässt sich Naef’s Aufstieg erklären?

Selbst Fabrikanten, die von ihrer Herkunft, ihrer Bildung und Ausbildung bessere Voraussetzungen mitbrachten gelang nur selten, was Mathias Naef in knapp zwei Jahrzehnten erreichte. Sicher spielten sein Charakter und seine Persönlichkeit eine wichtige Rolle, war sein Streben nach Gewinn, wirtschaftlichem Erfolg und sozialer Anerkennung entscheidend. Aber auch die unzureichende wirtschaftliche und soziale Situation, in der er sich befand und die er schon als Knabe sowohl als drückend, aber auch als veränderbar empfand, dürfte eine elementare Triebfeder seiner zähen Energie und seine Einsatzwillens gewesen sein.

Um jedoch zu unternehmerischem Erfolg zu gelangen, musste anderes hinzukommen, mussten aber auch die Zeitumstände günstig sein. Seine Geschicklichkeit und sein Ruf als guter Weber, sein Fleiss und seine Sparsamkeit ermöglichten ihm den Aufstieg zu einem kleinen Fabrikanten. Durch den schonungslosen Einsatz aller Kräfte, auch diejenigen seiner Frau und Kinder, durch rastlose Tätigkeit, Rechenhaftigkeit und eine sparsame Lebenshaltung vermochte er seinen Webereiverlag stetig auszuweiten. Die Tätigkeit als Verleger vermittelte ihm dann jene Kenntnisse, Fähigkeiten und Beziehungen, die ihm aufgrund seiner Herkunft abgingen. Er eignete sich kaufmännische Kenntnisse an, bekam Markterfahrung, lernte Absatzchancen wahrzunehmen und zu realisieren, gewann im Geschäftsverkehr gesellschaftliche Umgangsformen und konnte sich ein Netz von Beziehungen aufbauen – alles unentbehrliche Voraussetzungen für seine weiteren unternehmerischen Aktivitäten, die Gründung eigener Fabriken, die Aufnahme des Absatzes in eigener Regie und auf eigenes Risiko.

Quellen- und Literaturhinweise:

Bodmer, A.: Anderegg, eine Wattwiler Textilfabrikantendynastie des 19. Jahrhunderts. In Toggenburger Heimat-Jahrbuch 1953

Hungerbühler, J.M.: Industriegeschichtliches über die Landschaft Toggenburg, St. Gallen/Bern 1852.

Hungerbühler, J.M.: Der Toggenburger Fabrikant aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dargestellt in dem Leben des Mathias Naef von Niederuzwil. In Verhandlungen der St. Gallisch-Appenzellischen gemeinnützigen Gesellschaft 1855

Näf, A.: Der Toggenburger Fabrikant Mathias Naef in Niederuzwil. In Heimatbuch, Sammlung historischer Schriften von Adolf Näf, Oberuzwil, 1955, S. 226-230.

Oberli, H.: Das Familienunternehmen Raschle-Birnstiel-Lanz. Vom Fergger zur Weltfirma. In Toggenburger Annalen 1983.

Otto, F.: Männer eigener Kraft, Hilf dir selbst. Leipzig und Berlin 1881.

Tanner, A.: Spulen, Weben, Sticken. Die Industrialisierung in Appenzell Ausserrhoden, Zürich 1982

Wartmann, H.: Industrie und Handel des Kantons St. Gallen, St. Gallen 1875.

Widmer, O.: Niederuzwil und das Haus Mathias Naef. In Untertoggenburger Neujahrsblätter 1935/36.